„Sterbehilfe“ vor dem Verfassungsgericht
Geltendes Recht und Folgen der VfGH-Entscheidung
Derzeit gilt ein strafrechtliches Verbot der Mitwirkung an der Selbsttötung und der Tötung auf Verlangen (siehe Infobox unten). Ein Teil des Suizidmitwirkungs-Verbots wird am 31. Dezember 2021 aufgehoben: die Hilfeleistung zur Selbsttötung. Bis dahin kann das Parlament eine gesetzliche Neuregelung erarbeiten. Nicht aufgehoben wird das Verbot, jemanden zur Selbsttötung zu verleiten. Ebenso verboten bleibt die Tötung auf Verlangen.
Begründung der Aufhebung
Das zentrale Argument des VfGH ist die Selbstbestimmung, die jedem Menschen verfassungsmäßig zugesichert ist. Sie inkludiert das Recht, über sein eigenes Lebensende zu bestimmen. Das ist seit jeher dadurch anerkannt, dass ein Mensch lebenserhaltende Maßnahmen ablehnen darf. Auch eine potenzielle Beschleunigung des Sterbevorgangs als unbeabsichtigte Nebenfolge einer Symptomlinderung ist schon bisher zulässig (siehe Infobox). Der VfGH leitet daraus ab: das absolute Verbot der Suizidbeihilfe stellt einen Widerspruch zum Selbstbestimmungsrecht dar, der einer grundrechtlichen Prüfung nicht standhält.
Rahmenbedingungen der Zulässigkeit von Suizidbeihilfe
Zukünftig wird es nicht mehr absolut verboten sein, jemandem bei seiner Selbsttötung zu helfen. Der VfGH kann nicht vorschreiben, wie die Rahmenbedingungen für die Zulässigkeit der Suizidbeihilfe aussehen müssen; das ist Aufgabe des Gesetzgebers. Aber der VfGH hat in seiner Entscheidung erläutert, welche Faktoren er als maßgeblich dafür ansieht, dass eine künftige Regelung grundrechtskonform zu beurteilen ist.
Der Entschluss zur Selbsttötung (unter Beihilfe eines anderen Menschen) muss nach Ansicht des VfGH freiwillig und selbstbestimmt sein. Das bedeutet, dass eine suizidwillige Person dafür entscheidungsfähig und über ihre Optionen aufgeklärt sein muss sowie ihren Entschluss ohne Zwang treffen kann. Weil die Selbsttötung irreversibel ist, muss die helfende Person eine ausreichende Sicherheit haben, dass es sich um eine dauerhafte Entscheidung der suizidwilligen Person handelt.
Welche zusätzlichen Voraussetzungen und Rahmenbedingungen für eine erlaubte Suizidbeihilfe gelten sollen, muss das Parlament entscheiden. Dazu zählen wichtige Fragen wie: Soll Suizidbeihilfe nur für Menschen mit einer Krankheit erlaubt sein? Sollen alle Menschen Suizidbeihilfe leisten dürfen, oder braucht es dafür bestimmte Qualifikationen? Wie sollen die Voraussetzungen für eine erlaubte Suizidbeihilfe überprüft werden?
Diese und andere Fragen wurden in anderen Ländern unterschiedlich geregelt: z.B. in der Schweiz fast überhaupt nicht auf gesetzlicher Ebene, im U.S.-Bundesstaat Oregon sehr engmaschig durch das Parlament. Deutschland ist mit seinem Versuch, die Suizidbeihilfe gesetzlich zu regeln, zuletzt vor dem Bundesverfassungsgericht gescheitert und steht nun vor einer ähnlichen Situation wie Österreich.
Sozialethische Implikationen
Der VfGH hat die Aufgabe, Individualrechte zu prüfen. Das geschah im vorliegenden Verfahren in Hinblick auf vier Personen, die sich durch das absolute Verbot der Suizidbeihilfe beschwert sahen.
Ein Mann (55 Jahre) mit Multipler Sklerose; ein Mann (75 Jahre), noch nicht krank, der aber im Fall einer Krankheit die Option einer Suizidbeihilfe haben möchte; ein Mann (79 Jahre) mit Morbus Parkinson; und ein Mann (67 Jahre), der als Arzt die Option haben möchte, Suizidbeihilfe zu leisten.
Zugleich ist sich der VfGH bewusst, dass seine Entscheidung Auswirkungen auf die Gesellschaft als ganze hat, da ja ein Gesetz für alle gilt. Deshalb nimmt er den Gesetzgeber in die Pflicht, die sozialethischen Implikationen einer künftigen Regelung zu bedenken. Dazu zählt, dass die freie Selbstbestimmung des Einzelnen an reale Voraussetzungen geknüpft ist. Bei diesen realen Voraussetzungen wird immer wieder erwähnt (auch vom VfGH), dass Menschen einen effektiven Zugang zu Palliative Care und Hospizbetreuung haben müssen, um eine Alternative zur Selbsttötung zu sehen.
Darüber hinaus zählen zu diesen Voraussetzungen – meist noch lange vor dem Lebensende – bedürfnisgerechte Strukturen für die Langzeitpflege und -betreuung (z.B. im Alter oder bei Behinderung). Dass in Österreich sowohl in der Palliative Care und Hospizarbeit als auch in der Langzeitpflege und -betreuung noch Versorgungsbedarf besteht, ist unbestritten. Der VfGH verkennt dies wohl nicht, sagt aber zweierlei: die sozialethischen Implikationen rechtfertigen kein absolutes Verbot der Suizidbeihilfe; und diese Implikationen aufzugreifen ist Aufgabe des Gesetzgebers.
Was kommt?
Die VfGH-Entscheidung wird von vielen Menschen entweder als „Triumpf“ oder als „Niederlage“ gesehen – je nach moralischer Beurteilungsperspektive. Eine alternative Sichtweise könnte darin bestehen, einen gesellschaftlich übergreifenden Konsens für eine künftige Regelung zu erarbeiten. Dafür nötig ist: die vom VfGH herangezogene Selbstbestimmung in der Art zu schützen, dass sie das beste aus dem eigenen Leben machen kann. Manche Menschen mögen für sich selbst den Suizid als Ausweg aus einem sonst in ihrer Perspektive schrecklichen Leben in Erwägung ziehen. Statt die Suizidbeihilfe für diese Fälle simpel zu „erlauben“ oder „verbieten“, würde der Respekt vor Selbstbestimmung zuvorderst von einer Gesellschaft verlangen, dass Menschen weniger oft den Eindruck gewinnen, keinen anderen Ausweg zu haben. Praktisch bedeutet dies, dass eine künftige Regelung der Suizidbeihilfe neben der Verhinderung von Missbrauch all jene Anstrengungen fördern müsste, die es Menschen erleichtert – selbstbestimmt – Ja zum Leben sagen zu können.
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Eine leicht gekürzte Fassung des Beitrags erscheint in der Ausgabe des Granatapfel März 2021.