Existenzielle Fragen besser bewältigen
Die Barmherzigen Brüder Österreich sind dafür bekannt, dass Ethik einen hohen Stellenwert hat. Eine solche Ethikkultur zu entwickeln, ist ein langer Prozess.
Die Barmherzigen Brüder Österreich sind dafür bekannt, dass Ethik einen hohen Stellenwert hat. Eine solche Ethikkultur zu entwickeln, ist ein langer Prozess.
Hospitalität hat damit zu tun, Menschen aufzunehmen und ihnen Raum zu geben. In diesen Begegnungen stellen sich immer wieder ethische Fragen. Sie ernst zu nehmen ist ein Aspekt von Hospitalität.
So verbindet Hospitalität und Ethik eine praktische Zielsetzung: Menschen in konkreten Lebenssituationen gerecht werden. Sie dabei unterstützen, existenzielle Fragen zu bewältigen. Nicht über sie moralistisch richten, sondern dabei helfen, das Beste aus ihrem Leben zu machen.
„Ethik“ bedeutet, sich bewusst und kritisch drei Fragen zu stellen:
Ethik geht diesen Fragen systematisch und kritisch nach: Sie hinterfragt, versucht Argumente zu prüfen und möglichst gut begründete Antworten zu finden. Das bedeutet umgekehrt: Eine unreflektierte Wiedergabe von Übernommenem genügt ethischen Anforderungen nicht, weil die kritische Auseinandersetzung zu kurz kommt. Und ein bloßes „Bauchgefühl“, das für andere nicht erklärbar ist, reicht ebenfalls nicht, um von Ethik zu sprechen. Deshalb investieren die Barmherzigen Brüder in Ethikarbeit.
Die Barmherzigen Brüder zählten im deutschsprachigen Raum zu den Ersten, die im Jahr 1994 einen Ethik-Codex erarbeiteten. „Medizinethik“ war damals über weite Strecken eine Angelegenheit, die hauptsächlich in den Seminarräumen von Universitäten stattfand. Die Barmherzigen Brüder sahen allerdings, dass sich die Ethik im konkreten Leben verwirklicht, und wollten dies fördern. Damit waren sie früh an einer Entwicklung beteiligt, die international unter dem Stichwort „klinische Ethik“ bekannt wurde.
Eine Neufassung des Ethik-Codex 2010 verknüpfte grundlegende Aspekte der Ethik mit Anwendungsfragen aus allen Tätigkeitsbereichen der Barmherzigen Brüder.
Seit 2010 wurde bei den Barmherzigen Brüdern ein Ethikprogramm aufgebaut: Es verankert den Ethik-Codex in der alltäglichen Praxis und macht ihn erfahrbar. Im Rahmen dieser Ethikarbeit sind vielfältige Initiativen erwachsen:
Viele Personen haben dabei erfahren, dass Ethik keine Sonderwelt zu ihren täglichen Aufgaben und Problemen ist. Das wurde in Begegnungen deutlich:
Als im Oktober 2010 zum Start des Ethikprogramms ein provinzweites Ethiksymposium in Eisenstadt veranstaltet wurde, konnte man in den Gesprächen erkennen, dass die Themen, die im Ethik-Codex angesprochen werden, vielen Menschen unter den Nägeln brennen. Zehn Jahre später zeigte sich, wie weit wir gekommen sind, um diese Themen ernst zu nehmen: Im Mai 2019 kamen etwa 300 Menschen aus 23 Ländern nach Wien, um sich zu Fragen der praktischen Ethik am Krankenbett auszutauschen. Die Barmherzigen Brüder waren Gastgeber der 15. Internationalen Konferenz für Klinische Ethikberatung (ICCEC).
Die Entwicklungen der letzten zehn Jahre machen deutlich: Ethik hat bei den Barmherzigen Brüdern eine Geschichte, die ursächlich mit ihrem Auftrag zusammenhängt. Und Ethik hat darin eine zentrale Bedeutung, die in zahlreichen Situationen praktisch erfahrbar wird.
Ethik-Codex der Barmherzigen Brüder Österreich
Bei all den positiven Entwicklungen gilt es zu bedenken: Ethik ist keine Selbstverständlichkeit und kein Selbstläufer. Deshalb braucht es Menschen, die sich um Ethik kümmern. Das Ethikprogramm der Barmherzigen Brüder hat hierzu drei Ansatzpunkte. Der erste Ansatzpunkt zur Stärkung der Ethik liegt im Auftrag. Die enge Verbindung von Hospitalität und Ethik hilft dabei enorm. Die Integration der Ethikarbeit in die Richtlinien des Ordens oder die Strategie der Ordensprovinz und ihrer Einrichtungen geht diesen Weg konsequent weiter.
Der zweite Ansatzpunkt liegt in den Menschen. Ein Auftrag, eine Strategie oder ein Programm braucht Menschen, die es verkörpern. Das Ethikprogramm der Barmherzigen Brüder fördert daher die ethische Kompetenz der Mitwirkenden: im Rahmen der allgemeinen Berufsausbildung (z. B. für Pflegefachkräfte oder in der ärztlichen Basisausbildung) und im Kontext spezifischer Weiterbildungen (z. B. in der Führungskräfteentwicklung). Zusätzlich bietet das Ethikprogramm eine mehrstufige Qualifizierung für Personen in der Ethikarbeit an.
Der dritte Ansatzpunkt betrifft die Strukturen und Abläufe der Organisation. Einzelne Entscheidungen (z. B. am Krankenbett) sind eingebettet in ein soziales System (z. B. ein Krankenhaus). Dieses System wird durch Strukturen (z. B. Hierarchien) und Abläufe (z. B. Visite) geprägt. Sie sind mächtige Einflussfaktoren, wie Ethik erlebt und gelebt wird. Daher ist es nötig, klinische Ethik und Organisationsethik integrativ zu verbinden. Mithilfe dieser drei Ansatzpunkte – Auftrag, Menschen, Organisation – wird die Ethikkultur gestaltet.
Ethik ist nicht irgendwann erledigt. Sie bleibt eine lebenslange Aufgabe: für Menschen, Organisationen und Gesellschaften. Das Leben stellt uns immer wieder vor neue Fragen und Probleme. Für diese Situationen gibt es nicht Patentlösungen. Wer Respekt vor Menschen und letztlich der ganzen Schöpfung zeigen möchte, kommt nicht umhin, sich auf die konkrete Situation einzulassen. Vorab entwickelte Positionspapiere oder Leitlinien helfen, Orientierung zu bewahren, aber sie ersetzen nicht die konkrete Urteilskraft. Das unterscheidet praktische Ethik, wie im Ethikprogramm der Barmherzigen Brüder, von theoretischer Ethik, wie in Seminarräumen.
Damit diese praktische Ethik bei den Barmherzigen Brüdern weiterwachsen kann, sind zwei miteinander verbundene Entwicklungen nötig: Verstetigung und Professionalisierung. „Verstetigung“ bedeutet, dass die Strukturen und Abläufe des Ethikprogramms verlässlich in den Einrichtungen verankert sind. Das gelingt umso besser, je professioneller die Ethikarbeit ist. „Professionalisierung“ bedeutet, dass Personen über jene Kompetenzen verfügen, die für eine effektive Ethikarbeit nötig sind. Und dass diese Personen eine klare Funktion in der Einrichtung haben.
Damit kann es gelingen, dem Ziel der Ethikarbeit möglichst nahezukommen: Menschen, die in den Einrichtungen der Barmherzigen Brüder Hilfe suchen, und Menschen, die ihnen diese Hilfe anbieten, dabei zu helfen, existenzielle Fragen besser zu bewältigen.
Nach den Ausgaben von 1994 und 2010 liegt die 2023 erschienene dritte und vollständig überarbeitete Neuausgabe vor.
Vor über einem Jahrzehnt lebten wir in einer anderen Welt. Nicht nur die große, geopolitische Lage hat sich mittlerweile verändert. Auch das konkrete Leben der Menschen gestaltet sich anders. Wer heute krank wird, dem stehen vielfach andere Behandlungen zur Verfügung als früher. Die Chancen, einen Schlaganfall oder eine Krebserkrankung gut zu überstehen, sind dadurch oft besser geworden. Zugleich leben heute mehr Menschen länger mit Krankheiten und Einschränkungen, die eine Neuausrichtung ihres Lebens erfordern.
Solche Veränderungen haben auch eine ethische Komponente. Wenn weniger als Schicksal erscheint, dann stehen Menschen vor Entscheidungsfragen, die sie zuvor nicht beantworten mussten. Ethik entwickelt sich mit diesen Veränderungen.
Viele Menschen erhoffen sich, dass Ethik verbindliche Antworten parat hat, was in schwierigen Situationen zu tun sei. Das ist aber nicht einfach. Fragen ethisch zu beantworten ist Arbeit: innehalten (statt instinktiv reagieren), sich kundig machen (statt dilettieren) und kritisch argumentieren (statt bloß meinen). Es wäre deshalb un-ethisch, Ethik so zu verstehen, dass sie fertige Lösungen liefert. Ethik ist vielmehr ein Werkzeug, selbst verantwortbare Entscheidungen zu finden.
Der aktuelle Ethik-Codex gleicht einem Werkzeugkoffer, mit dem Menschen ethische Urteile bilden können. Statt fertige Antworten auf Detailfragen zu geben, stellt er drei große Fragen:
Diesen Fragen liegen Entscheidungen in der klinischen Ethik (bei einer medizinischen Behandlung) ebenso zugrunde wie Entscheidungen in der Organisationsethik (etwa in der Personalführung) oder in der Sozialethik (wie bei der ökologischen Verantwortung einer Gesundheitseinrichtung).
Der Codex bietet für all diese Bereiche Orientierungspunkte („Grundsätze“) an, welche die ethische Ausrichtung der Barmherzigen Brüder Österreich einnorden. Solche Grundsätze ersetzen nicht das eigenverantwortliche Urteil in einer konkreten Situation – sie helfen, es zu bilden.
Der Codex verkörpert letztlich ein altes Ethik-Verständnis, das sich von der Antike (Sokrates) über das Mittelalter (Thomas von Aquin) bis in die Moderne (Immanuel Kant) zieht und Letzterer so ausdrückte: „Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen.“ Nur so kann die Sorge um Menschen ihnen gerecht werden.