"Schlimmer als Junk-Food“
Integration, Wertschätzung und ein fast barrierefreier Zugang zur Medizin: Mit der Eröffnung einer kleinen Ambulanz für gehörlose Menschen legte Prim. Priv.-Doz. Dr. Johannes Fellinger 1991 den Grundstein für eine außerordentliche Pionierarbeit. In den vergangenen 30 Jahren wurde ein multidisziplinäres, lebensbegleitendes Therapiekonzept für Menschen mit Entwicklungsstörungen ins Leben gerufen und damit ein zukunftsweisendes Fachgebiet geschaffen: die Entwicklungsmedizin. Ein Meilenstein war die Gründung des Institutes für Sinnes- und Sprachneurologie im Jahr 2001.
Ziel ist Entfaltung des Potentials und Stärkung der sozialen Kommunikation
„Im Mittelpunkt steht die bewusste Zuwendung zu Menschen mit Entwicklungsstörungen, die Stärkung ihrer Fähigkeiten zur sozialen Kommunikation, die Entfaltung ihres Potentials, ein Ja zu ihrem Sein und dass sie ihren Platz in der Gesellschaft finden können“, bringt der Neurologe und Psychiater die Ziele der Entwicklungsmedizin auf den Punkt. Was wurde in den 30 Jahren erreicht? „Die Arbeit des Gesundheitszentrums für Gehörlose durfte dazu beitragen, dass Betroffenen nun mehr wahrgenommen werden. Vor 30 Jahren waren Gehörlose noch nicht am Radar der medizinischen Versorgung. Aufgrund der Kommunikationsprobleme waren sie auf sich alleine gestellt. Mit der Eröffnung der Gehörlosenambulanz schufen wir einen fast barrierefreien Zugang zur Medizin. Mit der Frühintervention für Kinder mit Hörschädigung können wir betroffene Familien nun von Anfang an begleiten und unterstützen.
Im Laufe der Jahre haben wir durch unsere Patienten auch viele wichtige Erkenntnisse gewonnen, auf denen wir aufbauen konnten. Insbesondere der ständige Dialog zwischen Medizin und Sprachwissenschaft – verkörpert durch Priv.-Doz. Dr. Daniel Holzinger – ist Motor für ständige Weiterentwicklungen, u.a. im Arbeitsfeld Sprachstörungen und Autismus.
Die Arbeitsweise am ISSN zeichnet sich durch das intensive Zusammenwirken unterschiedlicher Professionalitäten mit dem klaren Fokus auf den jeweiligen Patienten und sein Umfeld aus.“
Hohe Bedeutung der frühkindlichen Kommunikation
Die frühkindliche Kommunikation ist für die Gesamtentwicklung des Kindes von großer Bedeutung, bekommt aber immer mehr Konkurrenz durch die ständig steigende Medienpräsenz, meint der Mediziner. „Rund 10 Prozent aller Kinder sind von Entwicklungsstörungen betroffen. Gerade bei diesen ist eine frühestmögliche gelungene Kommunikation wichtig. Kinder brauchen generell von Anfang an die ungeteilte Aufmerksamkeit ihrer Eltern, diese sind aber oft gleichzeitig mit den neuen Medien beschäftigt. Dies hat Auswirkungen auf die Entwicklung der Kinder. Sprache lernt man nur richtig über eine Bezugsperson. Eltern sollten daher gezielt Zeit mit ihren Kindern ohne Medien verbringen.“
Es braucht flächendeckendes Sprachscreening
Grundlage dafür ist eine Früherfassung betroffener Kinder: „Entwicklungsstörungen werden leider viel zu spät erkannt, da sie sozusagen unsichtbar sind. Zudem fehlt das Bewusstsein in der breiten Öffentlichkeit. Bei Junk-Food wissen mittlerweile alle, dass es der Gesundheit nicht förderlich ist. Aber nicht gelebte Kommunikation ist viel schlimmer als Junk-Food. Wir brauchen ein flächendeckendes Sprachscreening mit anschließender Intervention. Es gibt zwar schon Gespräche, leider fehlen für die Umsetzung die finanziellen Ressourcen und auch das Personal.“
Hintergrundinfo:
Das Institut für Sinnes und Sprachneurologie (ISSN) ist Vorreiter und Pionier in der Diagnose und Therapie von Entwicklungsstörungen. Im Mittelpunkt stehen die Bedürfnissen der Patienten, auf die die Therapien individuell abgestimmt werden.
Der Grundstein wurde 1991 mit der Eröffnung einer kleinen Ambulanz für gehörlose Menschen geschaffen, um bei gesicherter Kommunikation in Gebärdensprache medizinische Hilfe in unterschiedlichen Bereichen bieten zu können. Aufgrund des Erfolges und der Nachfrage folgten 1997 der Aufbau einer dreijährigen Schule für Sozialbetreuungsberufe in Gebärdensprache und 1999 die Eröffnung der Lebenswelt Schenkenfelden einer Einrichtung für Gehörlose mit Mehrfachbeeinträchtigungen und Taubblinde (weitere Lebenswelten wurden 2011 in Pinsdorf sowie 2014 in Wallsee eröffnet). 2000 folgte die Etablierung der eurologisch linguistischen Ambulanz, die als erste Anlaufstelle für Diagnostik von Entwicklungsstörungen, wie beispielsweise Sprachstörungen, ADHS oder Autismus gilt und 2001 die Gründung des Instituts für Sinnes- und Sprachneurologie. 2008 erfolgte die Eröffnung des Autismuskompetenzzentrums.
Weitere Meilensteine waren 2018 die Eröffnung der Ambulanz für Inklusive Medizin, die Menschen mit Schwer- und Mehrfachbehinderungen einen gleichwertigen und auf ihre Bedürfnisse zugeschnittenen Zugang zur klinischen Gesundheitsversorgung bietet sowie 2019 die Eröffnung des Forschungsinstituts für Entwicklungsmedizin an der Johannes Kepler Universität, an dem Entwicklungsstörungen über die gesamte Lebensspanne hinaus erforscht werden.