Liebe zwischen Sorge und Hoffnung
„Dass, was ich am allermeisten von der Gesellschaft höre ist: „Erzieh´ dein Kind, es ist unerzogen!‘ Das höre ich mindestens einmal am Tag. Erkläre ich dann, mein Sohn ist Autist, wird mir vorgeworfen, dass ich Behinderung vorschiebe“, erzählt Selina, Mutter des vierjährigen Louis.
Louis erhielt mit zwei Jahren zunächst die Diagnose „Entwicklungsverzögerung“, in weiterer Folge wurde auch Autismus diagnostiziert. Das Kind ist non-verbal, was in der Gesellschaft immer wieder zu Missverständnissen führt, weil Louis keine Reaktionen zeigt bzw. keine Antworten gibt. „Von außen sieht das Kind aus wie jedes andere auch. Bloß funktioniert es anders. Mir wäre damit geholfen, wenn unsere Gesellschaft generell dieses Bild „so hat jemand zu sein'' aufgibt, das ist der große Punkt“. Louis hat mittlerweile seine eigene Art, sich auszudrücken gefunden, er zeigt Bildkärtchen. Für ihn funktioniert diese andere Art der Kommunikation sehr gut. Für die Eltern bleibt die Hoffnung, das Louis eines Tages doch noch sprechen wird.
„Was heißt, das Kind ist nicht normal? Was ist normal? Wer sagt, dass es nicht normal ist?“
Das wichtigste sei, zu verstehen, dass Autisten so reagieren, wie sie reagieren, weil sie nicht anders können, nicht weil sie unerzogen oder aggressiv sind. Sie sind einer unvorstellbaren Reizüberflutung ausgesetzt, die auch mit massiven Ängsten verbunden ist, erzählt Nicole, Mutter der vierjährigen Pia. „Sie fängt an zu schreien, wenn die Umgebungsgeräusche zu laut sind, zu viele Leute oder andere Kinder in der Nähe sind. Oder sie rennt weg, ohne zu schauen, ohne zu wissen wohin. Ich glaube, sie muss einfach alles auf sich wirken lassen, das Licht, den Wind, die Blätter, die Autos, die Steine auf der Straße“, erzählt die Mutter der Vierjährigen.
„Des Kind is a Wahnsinn, so a Kind muss weg“
Zuhause fühlt sich das süße Mädchen geborgen und sicher. Konzentriert widmet sie sich stundenlang ihrem „Spezial-Interesse“: Buchstaben und Zahlen. Aktivitäten in der Öffentlichkeit hingegen stellen die Familie vor enorme Herausforderungen. „Des Kind is a Wahnsinn, des Kind braucht links und rechts a Detschn“, solche Sätze treffen die Mutter nach wie vor mitten ins Herz.
„Man muss man sich durchkämpfen“
„Manche Eltern haben eine Scheu, in der Öffentlichkeit über ihr autistisches Kind zu sprechen“, erzählt Emira, Mutter eines Fünfjährigen. Sie spricht die Dinge offen an und hat viel positive Erfahrung damit gemacht. Auch ihr Sohn Jakob spricht noch nicht: „Das Faszinierende ist, dass er sich trotzdem gut zurechtfindet, auch ohne Sprache. Er hat so einen Bewegungsdrang, dass ich manchmal denke, er hat keine Zeit zu reden und etwas ganz anderes im Kopf als wir. Ich glaube, er ist glücklich mit sich selbst.“
Im Herbst soll Jakob in eine Regelschule gehen, was viele offene Fragen für die Familie aufwirft, denn ihr Sohn braucht - so wie viele autistische Kinder auch - eine 1:1 Betreuung in der Schule und im Hort. „Ich weiß noch gar nicht, ob er in die Nachmittagsbetreuung gehen kann, denn wer wird ihn dort unterstützen, wie wird das funktionieren, wie werden wir das managen?“ sorgt sich die dreifache Mutter.
Immer mehr Kinder sind betroffen: 15% Steigerung der Autismus-Diagnosen pro Jahr
Wie wichtig die Betreuung von autistischen Kindern im Schulalter ist, zeigt die Erfahrungen von Natalie, die als Eltern-Peer im Institut für Sinnes- und Sprachneurologie betroffene Familien unterstützt. „Seit Herbst besucht mein Sohn die Schule und blüht richtiggehend auf“, erzählt die Mutter. „Die Klasse besteht aus nur fünf Kindern, die von drei Lehrkräften und einer Stützkraft betreut werden. Er ist non-verbal mit diagnostiziertem frühkindlichem Autismus, trotzdem fühlt er sich richtig wohl in der Schule.“ Umsetzen lässt sich dieses Vorzeigebeispiel einer Gmundner Schule leider selten. In den letzten Jahren betrug die Steigerung der Autismus-Diagnosen rund 15%. Dem gegenüber steht ein spürbarer Personalmangel in Kindergärten, bei Stützkräften und Sonderpädagog*innen.
Kapazitätsprobleme kennt man auch im Institut für Sinnes- und Sprachneurologie im Krankenhaus der Barmherzigen Brüder in Linz. Obwohl das Institut mittlerweile an drei Standorten über 25 Mitarbeiter*innen in der Autismusfrühintervention beschäftigt, dauert die Wartezeit allein auf eine Diagnose oft über ein halbes Jahr, auch Therapieplätze sind begrenzt.
„Autismus ist nicht heilbar, aber behandelbar – vor allem in den ersten Lebensjahren“
Priv.- Doz. Dr. Daniel Holzinger, Leiter des Autismuskompetenzzentrums verweist darauf. „Wichtig ist die frühe Erkennung von Autismus. Hier bieten Eltern-Kind-Pass- Untersuchungen bei Kinderärzten und Allgemeinmedizinern eine gute Gelegenheit. Es gilt, Beobachtungen und Sorgen von Eltern zum Kommunikationsverhalten ihrer Kinder ernst zu nehmen, ebenso die Beobachtungen von Kindergartenpädagoginnen.“
Insbesondere bei frühem Beginn der Autismustherapie gelingt es, dass Kinder Freude am gemeinsamen Spiel und der Kommunikation mit einem Gegenüber entwickeln, die verkümmerten sozialen „Antennen“ werden ausgefahren.
„Das Verhalten von Eltern ist wichtig für die Entwicklung eines Kindes, aber niemals der Auslöser von Autismus“.
Ein neues Therapiekonzept zielt darauf ab, Eltern in der Interaktion mit ihren Kindern anzuleiten und ihnen zu helfen, ihr Kind besser zu verstehen. Falls erforderlich, folgen dann Therapien, die stärker an einer direkten Förderung des Kindes ansetzen. Hierbei gilt es immer, die Signale des Kindes zu beobachten und darauf zu reagieren. Konsequente Unterstützung und Belohnung z.B. von Blickkontakt oder einer Zeigegeste, führt zu Fortschritten der spontanen Kommunikation.
Zur „Navigation“ und emotionalen Unterstützung von Eltern nach einer Autismusdiagnose ihres Kindes arbeiten mittlerweile auch mehrere Eltern, die selbst ein Kind mit Autismus haben, im Autismuskompetenzzentrum mit. Sie bieten Einzelberatung, aber auch die Möglichkeit z.B über Elternstammtische, dass sich Eltern treffen und sich Mut machen. Aktuell wird eine Mediathek aufgebaut, die Eltern prägnante und fachlich fundierte Informationen zu Autismus, zur Förderung und Alltagsbewältigung bietet. „Unsere bereits veröffentlichten Studien zur Evaluierung der Autismustherapie zeigen deutliche Fortschritte im Bereich der Kommunikation, aber auch des Lernens und der Autismusausprägung bei den Kindern und Stressreduktion bei den Eltern durch die verbesserte Kommunikation in der Familie.“
„Die Akzeptanz des Anders-Seins, ein gesellschaftlicher Mehrwert!“
Für die Gesellschaft bietet Autismus ein enormes Potential an Weiterentwicklung. Diese besonderen Menschen durchbrechen ein längst überholtes Schubladen- Denken und lassen uns gesellschaftliche Normen hinterfragen. Was ist normal, was darf man, was ist natürlich, was ist Instinkt und wann haben wir ihn aufgrund von Erziehung, Etikette und Zwang aufgegeben? Antworten darauf finden wir in der Akzeptanz des Anders-Sein und der Offenheit gegenüber Bedürfnissen unserer Mitmenschen.