Gender Medizin - Nur ein kleiner Unterschied?
Fachärztin Dr. Eva Ornella ist Internistin am Krankenhaus der Barmherzigen Brüder St. Veit/Glan
Jahrzehntelang hat sich die Medizin am „Modell Mann" orientiert und Frauen wurden einfach wie eine Art „kleinerer, leichterer Mann" behandelt. Dass Frauen oft andere Symptome zeigen, ist mittlerweile klar. Der Geschlechtsunterschied spielt bei verschiedensten Krankheitsbildern eine Rolle: u.a. bei Diabetes, Herz-Kreislauferkrankungen, Krebs und Infektionskrankheiten. Kärnten positioniert sich als Vorreiter in der Förderung und Umsetzung von Gendermedizin und wird zur Modellregion in diesem wichtigen medizinischen Bereich. Durch ein umfassendes Maßnahmenpaket, das sowohl auf Aus- und Weiterbildung von Ärzten und Pflegepersonal, als auch auf die Sensibilisierung der Öffentlichkeit zielt, setzt Kärnten neue Maßstäbe in der Integration der Gendermedizin in das Gesundheitssystem. Dieser ganzheitliche und wegweisende Ansatz macht Kärnten zu einem wichtigen Akteur in der weiteren Entwicklung und Verbreitung der Gendermedizin.
Fachärztin Dr. Eva Ornella ist Internistin am Krankenhaus der Barmherzigen Brüder St. Veit/Glan und erklärt im Interview, warum eine geschlechterspezifische Medizin wichtig ist und warum Frauen anders krank sind.
Was ist Gendermedizin?
Gendermedizin-Beauftragte FÄ Dr. Eva Ornella: Der deutsche Begriff Gendermedizin ist zugegebenermaßen etwas unglücklich gewählt. Eigentlich müsste es geschlechtsspezifische Medizin heißen. Das heißt, Gendermedizin ist keine „Frauenmedizin“, sondern beschäftigt sich mit dem Einfluss des Geschlechts auf Gesundheit und Krankheit. Das ist insofern relevant, da Frauen und Männer biologisch nicht gleich sind.
Warum ist es wichtig, auf die Unterschiede von Frauen und Männern zu achten?
Viele Medikamente wurden jahrelang nur an Männern erforscht und erprobt, weil der weibliche Körper mit dem weiblichen Zyklus und den weiblichen Sexualhormonen zu kompliziert für die Forschung erschien und in weiterer Folge Frauen als Testpersonen als zu kostspielig galten. Jahrzehntelang wurden also Frauen mit Medikamenten und Dosierungen behandelt, die nur an Männern erforscht und getestet wurden.
Welchen Einfluss haben die Sexualhormone Östrogen und Testosteron?
Die Geschlechtshormone Östrogen und Testosteron haben einen großen Einfluss auf Krankheitsbild und Krankheitsverlauf und müssen daher in Diagnose und Behandlung viel mehr berücksichtigt werden. Beim Darmkrebs spielt das weibliche Geschlechtshormon Östrogen eine wichtige Rolle, da es - bis zu einem gewissen Grad - sehr lange vor der Entstehung von Dickdarmkrebs schützt. Deshalb ist es zum Beispiel auch wichtig bei der Vorsorgekoloskopie zu differenzieren. Frauen profierten davon, wenn man das Intervall verlängert, Männer profitieren davon, wenn man die Vorsorgekoloskopie schon früher durchführt.
Warum ist die Gendermedizin trotzdem noch nicht überall angekommen, etwa bei der Diagnosestellung?
Das hat historische Gründe. Angefangen von Leonardo da Vincis „vitruvianischer Mensch“, der den perfekten Mensch darstellt und wenig überraschend ein Mann ist, entwickelte sich die klinische Medizin gegen Ende des 18.Jahrhunderts. Erst 1904 schloss die erste Frau ihr Medizinstudium an der Universität Wien ab und obwohl heute mehr als 65% der MedizinstudentInnen weiblich sind, besetzt nur jede zehnte leitende Position eine Frau.
Unterscheiden sich bei Mann und Frau Krankheitssymptome und -verläufe?
Hier sind vor allem die Symptome des Herzinfarktes beispielhaft. Die typischen Symptome, die wir kennen, sind der Brustschmerz verbunden mit einem thorakalen Engegefühl, auch Vernichtungsschmerz genannt, mit Ausstrahlung in den linken Arm.
Mittlerweile wissen wir jedoch, dass diese Symptombeschreibung hauptsächlich auf männliche Patienten zutrifft. Die Beschwerdesymptomatik der Frauen - Übelkeit, Erbrechen, Schwäche mit Leistungsminderung, plötzlicher Schweißausbruch, Schmerzen im Oberbauch, Kiefer oder Nacken - wird häufig als „atypisch“ bezeichnet, weil sie eben nicht diesem klassischen Bild entspricht. Diese Unterschiede im klinischen Erscheinungsbild zwischen Männern und Frauen gibt es bei vielen Erkrankungen, nicht nur beim Herzinfarkt, und ist Bestandteil der Gendermedizin.
Müssen Frauen und Männer gegebenenfalls anders behandelt werden?
Definitv! Viele Medikamente wirken bei Frauen und Männern anders. So sollten z.B. Betablocker, ein blutdrucksenkendes Medikament, für Frauen geringer dosiert werden, um die Nebenwirkungen zu reduzieren. Digitalis, ein Medikament, das gegen Herzschwäche eingesetzt wird, zeigte für Frauen eine erhöhte Sterblichkeit, was zunächst nicht bemerkt wurde, da an der Studie ¾ der Probanden Männer waren.
Wie sieht es mit „Frauenkrankenheiten“ bei Männern aus? Können Männer auch Osteoporose, Brustkrebs und Rheuma bekommen?
Osteoporose ist ein sehr schönes Beispiel, das zeigt, dass nicht nur Frauen von der Gendermedizin profitieren, sondern natürlich auch Männer. Osteoporose gilt gemeinhin als typische Frauenerkrankung. Männer sind aber weit häufiger von Osteoporose betroffen, als bisher angenommen. Frauen können Viruserkrankungen besser abwehren als Männer, das hat man auch zuletzt bei der Pandemie gesehen, wo Männer doppelt so häufig auf der Intensivstation an Covid-19 gestorben sind als Frauen.
Vorreiter im Gebiet der Gender Medizin
Das Krankenhaus der Barmherzigen Brüder in St. Veit an der Glan besitzt seit kurzem nicht nur eine Gendermedizin-Beauftragte, Fachärztin Dr. Eva Ornella, sondern erarbeitet derzeit auch intensiv Aus- und Fortbildungen, um die MitarbeiterInnen auf das Thema aufmerksam zu machen. Das Bundesland Kärnten nimmt hier auch eine Vorreiterrolle ein, da es österreichweit die erste Modellregion für Gendermedizin ist. So werden beispielsweise laufend Vorträge abgehalten, welche die Bevölkerung sensibilieren sollen.